Gespräche zur Anthropologie

„Unmöglichkeit durch Naturgesetze die Natur zu erklären…“

Gespräch mit Nicolai Hartmann

Die Natur im Menschen und der Mensch in der Natur

Kurt E. Becker im Gespräch mit Nicolai Hartmann

KEB: Herr Hartmann, lassen Sie uns „über die Natur im Menschen und den Menschen in der Natur“ miteinander sprechen. Was mit diesem Thema auf den Begriff gebracht wird ist ja nichts Geringeres als das Initial menschlichen Hausens auf der Erde schlechthin. Was hat es damit unter naturphilosophischen und anthropologischen Gesichtspunkten aus Ihrem Blickwinkel auf sich?

Hartmann: Als tierisches Lebewesen gehört der Mensch der organischen Natur an, zwar als Spitzenleistung ihrer gewaltigen Produktionsfülle, aber doch auch nur als Spätling und relativ geringer Bruchteil ihrer Mannigfaltigkeit. Und wiederum, wie jede organische Spezies ihre besondere innere Natur, ihre Lebensform und Artgesetzlichkeit nur in Bezogenheit auf eine umgebende äußere Natur, in Angepasstheit an sehr bestimmte Lebensbedingungen hat, so hat auch der Mensch die seinige nur im Hinblick auf die Lebensverhältnisse, in welche sein Auftreten inmitten des großen Gefüges der organischen und anorganischen Natur ihn stellt.

KEB: Dieser Zusammenhang sollte doch eigentlich Grundlage des Nachdenkens über menschliches Wesen und Leben generell sein?

Hartmann: Ein Blick auf die Geschichte des Themas „Mensch“ lehrt das Gegenteil. Die Griechen freilich, soweit bei ihnen gewisse Anfänge anthropologischen Denkens vorliegen, haben ihn gesehen und in charakteristisch naturalistischen Theorien ausgeprägt … In christlicher Zeit dringt … ein anderer Begriff des Menschen durch. Dieser sieht nicht mehr das Wesen des Menschen in einer ihm eingewurzelten „Natur“, sondern in bewusstem Gegensatz dazu in einem geistigen Wesen, das gottähnlich und göttlichen Ursprungs ist, demgegenüber denn auch der Organismus zu einem mehr äußeren Beiwerk herabsinkt …

KEB: Was heißt das denn konkret in Bezug auf die „menschliche Natur“?

Hartmann: … Der Mensch ist ein mehrschichtiges Wesen, und die heterogenen Gesetzlichkeiten des Organismus, des Seelenlebens und des Geistes bestehen in ihm zusammen, sich in ihm überlagernd und mannigfach ineinandergreifend. Man kann also das Ganze seines Wesens nur so fassen, dass man zum Mindesten von beiden Seiten zugleich vorgeht, vom Naturwesen und vom geistigen Wesen im Menschen.

KEB: Hinsichtlich einer philosophischen Anthropologie bedeutet dies was? Auf jeden Fall geht es wohl nicht um den Menschen als isoliert dastehendes Wesen, sondern um den Menschen in der Natur und in der Geschichte, das heißt um den Menschen, wie er inmitten der ihn umgebenden Welt dasteht. In den Blick gerät dabei auch das menschliche „Verhältnis zur Umwelt“.

Hartmann: Man beging dabei den Fehler, auch die umgebende Welt des Menschen nur als sein „Objekt“ zu betrachten, als ob sie nur insofern für ihn bestimmt wäre, als sie von ihm erkennend erfasst wird.

Der Mensch steht eben von vornherein und unabhängig von allem Erkennen in der Welt, die ihrerseits auch ohne ihn da war. Das Auftreten des Menschen in dieser Welt ist sekundär und setzt, ontologisch gesehen, sie schon als bestehend voraus. Es müssen sehr bestimmte Bedingungen erfüllt sein …, damit überhaupt eine Lebewelt, und mit ihr der Mensch, aufkommen kann.

Will man das rätselvolle Wesen Mensch recht verstehen, so muss man es von vornerein aus seiner Stellung in der Natur heraus verstehen, ja, genauer: aus den besonderen Bedingungen heraus, welche seine nächste Umgebung ausmachen, diejenige Umgebung nämlich, in der allein sein Leben möglich ist.

KEB: Herr Hartmann, ich danke Ihnen für dieses erhellende Gespräch.

Nicolai Hartmann, geboren am 19. Februar 1882 in Riga, gestorben am 9. Oktober in Göttingen, war ein deutscher Philosoph und Fundamentalontologe, als solcher ein bedeutender Vertreter des kritischen Realismus und wichtiger Erneuer der Metaphysik im 20. Jahrhundert.
Gespräch mit Johann Gottfried Herder

Wo Menschen leben können, leben Menschen

Kurt E. Becker im Gespräch mit Johann Gottfried Herder

Das Gespräch findet sich in „Der behauste Mensch“, Patmos Verlag 2021

Gespräch mit Ernst Jünger

Das Ende eines geistesgeschichtlichen Abschnitts

Kurt E. Becker im Gespräch mit Ernst Jünger

KEB: Herr Jünger, lassen Sie uns über den Arbeiter miteinander sprechen. In ihm sehen Sie den Gestalter menschlicher Zukunft. Sein Arbeitsraum besitzt einen „planetarischen Umfang“. In diesem Sinne schafft der Arbeiter auch die Voraussetzung für das künftige Behaust-Sein des Menschen.

Jünger: In diesem Zusammenhange deutet sich bereits die natürliche Aufgabe an, die eine Kunst zu bewältigen hat, welche die Gestalt des Arbeiters repräsentiert. Sie liegt in der Gestaltung eines wohlbegrenzten Raumes, nämlich der Erde, im Sinne derselben Lebensmacht, die zu seiner Beherrschung berufen ist.

KEB: Ein gewaltiges Projekt, ohne Frage.

Jünger: Es leuchtet ein, dass es einem Willen, der als sein elementares Material den Erdball begreift, an Aufgaben nicht fehlen kann … Die Kunst hat zu erweisen, dass das Leben unter hohen Aspekten als Totalität begriffen wird. Daher ist sie nichts Abgelöstes, nichts, was an sich und aus sich heraus Gültigkeit besitzt, sondern es gibt kein Gebiet des Lebens, das nicht als Material auch der Kunst zu betrachten ist.

KEB: Als Beispiel in diesem Zusammenhang erwähnen Sie die Landschaftsgestaltung. Inwiefern ist die von Relevanz?

Jünger: Dies wird klar, wenn man als die umfassendste Aufgabe, die sich dem künstlerischen Willen darbietet, die Landschaftsgestaltung begreift. Die Landschaftsgestaltung, und zwar die planmäßige Landschaftsgestaltung, gehört zu den Zeugnissen aller Zeiten, denen eine unbezweifelbare und unbestreitbare Herrschaft gegeben war. Die bedeutendsten Beispiele bieten die großen Sakralen, Götter- und Totenkulten geweihten Landschaften, die um heilige Ströme oder Gebirge gelagert sind. Sagen, die uns von Atlantis überliefert sind, der Nil und der Ganges, die tibetanischen Felswände und die glückseligen Inseln des Archipelagos geben der Erinnerung Maßstäbe der Gestaltungskraft, deren das Leben fähig ist. Die Stadt Mexiko glich vor ihrer Zerstörung einer Perle in einem See, mit dessen Ufern sie strahlenförmig durch Dämme, die durch Dörfer unterbrochen waren, in Verbindung stand. Von diesen Ufern stieg amphitheatralisch eine wunderbare Gartenlandschaft bis an die Eisgrenze hinauf. Ebenso wunderbar waren die Parklandschaften, in die chinesische Kaiser ganze Provinzen verwandelten. Die letzte und fast noch gegenwärtige Anstrengung dieser Art ist die Beziehung der Landschaft auf die absolute Person, wie sie uns in den fürstlichen Residenzen der Lustgärten erhalten ist.

KEB: Sie hatten aber auch zu Ihrer Zeit bereits die negativen Folgen dieser „Erdgestaltung“ vorausgesehen.

Jünger: Der wahllose Konkurrenzkampf um die Reviere des natürlichen Reichtums und die Anhäufung von Individuen zu einer atomisierten Gesellschaft in den großen Städten brachten in unglaublich kurzer Zeit eine Veränderung hervor, deren Eingriff bis zur Verpestung der Atmosphäre und der Vergiftung der Flüsse führt. Dieser Vorgang musste unausbleiblich die Einsicht nach sich ziehen, dass die isolierte ökonomische Existenz, das abstrakte Denken in ökonomischen Werten und Theorien, letzten Endes nicht einmal die ökonomischen Rangordnungen aufrecht zu erhalten vermag. Diese Einsicht wird illustriert durch einen Trümmerhaufen von Anlagen in allen Ländern der Welt, der nicht etwa die Folgen einer vorübergehenden Krise, sondern das Ende eines geistesgeschichtlichen Abschnitts anschaulich macht.

KEB: Ein Ende dieser Art von Industrialisierung, Sie sprechen von „Werkstättenlandschaft“, scheint Ihnen aber auch möglich zu sein?

Jünger: Jedenfalls ist zu erwarten, dass das Bild der individuellen und sozialen Anarchie, wie es die Werkstättenlandschaft in ihrer ersten Phase darbietet, jenes Bild, in dem Konkurrenz, Profit um jeden Preis und regellose Massensiedlungen die Erde mit ihrem Aussatz bedecken sehr bald der Geschichte angehören wird.

KEB: Herr Jünger, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.

Ernst Jünger, geboren am 29. März 1895 in Heidelberg, gestorben am 17. Februar 1998 in Riedlingen, dem zu begegnen während meiner Bundeswehrzeit im Wilflinger Forsthaus mir Freude und Ehre war, gehört sicherlich zu den umstrittensten Autoren Deutschlands. Geprägt wurde er durch seine Erlebnisse im Ersten Weltkrieg, deren Verarbeitung in Tagebüchern, Romanen, Essays, Erzählungen usw. ein ganzes Leben in Anspruch nahmen. Trotz seiner Nähe zum Nationalsozialismus wurde ihm unter anderem 1982 der Goethepreis verliehen.
Gespräch mit Ernst Mach

Haushalten lernen

Kurt E. Becker im Gespräch mit Ernst Mach

KEB: Herr Hofrat, lassen Sie uns unter anthropologischen Gesichtspunkten über kulturgeschichtliche Entwicklungen und die Entwicklung menschlichen Hausens miteinander sprechen. Gehen wir zunächst zurück zum statu nascendi menschlicher Kultur und menschlichen Behaustseins.

Mach: Was dem primitiven Menschen einen quantitativen Vorteil über seine tierischen Genossen verbürgt, ist wohl nur die Stärke seiner individuellen Erinnerung, die allmählich durch die mitgeteilte Erinnerung der Vorfahren und des Stammes unterstützt wird. Auch der Fortschritt der Kultur überhaupt ist wesentlich dadurch gekennzeichnet, dass zusehends größere räumliche und zeitliche Gebiete in den Bereich der Obsorge des Menschen gezogen werden. Mit der teilweisen Entlastung des Lebens, welche bei steigender Kultur zunächst durch die Teilung der Arbeit, die Entwicklung der Gewerbe und so weiter eintritt, gewinnt das auf ein engeres Tatsachengebiet gerichtete Vorstellungsleben des Einzelnen an Kraft, ohne dass jenes des gesamten Volkes an Umfang verliert. Das so erstarkte Denken kann nun selbst allmählich zu einem Beruf werden. Das wissenschaftliche Denken geht aus dem volkstümlichen Denken hervor. So schließt das wissenschaftliche Denken die kontinuierliche biologische Entwicklungsreihe, welche mit den ersten einfachen Lebensäußerungen beginnt.

KEB: Lassen Sie uns das an konkreten Beispielen verdeutlichen.

Mach: Das Ziel des vulgären Vorstellungslebens ist die gedankliche Ergänzung, Vervollständigung einer teilweise beobachteten Tatsache. Der Jäger stellt sich die Lebensweise eines eben erspähten Beutetiers vor, um danach sein eigenes Verhalten zweckentsprechend zu wählen. Der Landwirt denkt an den passenden Nährboden, die richtige Aussaat, die Zeit der Fruchtreife einer Pflanze, die er zu kultivieren gedenkt. Diesen Zug der gedanklichen Ergänzung einer Tatsache aus einem gegebenen Teil hat das wissenschaftliche Denken mit dem vulgären gemein … Das vulgäre Denken, wenigstens in seinen Anfängen, dient praktischen Zwecken, zunächst der Befriedigung leiblicher Bedürfnisse. Das erstarkte wissenschaftliche Denken schafft sich seine eigenen Ziele, sucht sich selbst zu befriedigen, jede intellektuelle Unbehaglichkeit zu beseitigen. Im Dienste praktischer Zwecke gewachsen, wird es sein eigener Herr.

KEB: Unter anderem aus den Ergebnissen dieser unterschiedlichen Denkarten wurde die menschliche Kultur.

Mach: Neben der Tier- und Menschenarbeit verfiel man nach und nach auf die Ausnutzung der Arbeitskräfte der „unbelebten Natur“. So entstanden die Wassermühlen, die Windmühlen. Mehr und mehr Arbeiten, die zuvor durch Tier- und Menschenkraft verrichtet worden waren, übertrug man nun dem bewegten Wasser und der bewegten Luft, welche nur die Maschinenanlage erfordern, nicht genährt werden mussten, und im Allgemeinen auch weniger widerspenstig waren, als Tiere und Menschen. Die Erfindung der Dampfmaschine erschloss den reichen Arbeitsvorrat, welche in der seit Jahrmillionen als Steinkohle aufgespeicherten Waldvegetation der Vorwelt verborgen war und nun zur Leistung für die Menschen herangezogen wird. Die neuerstandene Elektrotechnik erweitert durch die elektrische Kraftübertragung das Anwendungsgebiet der Dampfmaschine sowohl, als auch jenes der an abgelegenen Orten angreifenden Wind- und Wasserkräfte. Schon im Jahr 1878, also vor dem großen Aufschwung der Elektrotechnik, waren in England Dampfmaschinen mit der Gesamtsumme von 4,5 Millionen Pferdekräften in Gang, welche der Arbeitskraft von 100 Millionen Menschen entsprachen.

KEB: Mit geradezu prophetischer Weitsicht haben Sie zu Ihrer Zeit bereits Probleme thematisiert, die uns heutige nun seit etwa einem halben Jahrhundert beschäftigen.

Mach: Die summenden Straßenbahnen, die schwirrenden Räder der Fabriken, das strahlende elektrische Licht betrachten wir nicht mehr mit reinem Vergnügen, wenn wir die Masse der Kohle erwägen, welche hierbei stündlich in die Luft geht. Wir nähern uns mit unheimlicher Geschwindigkeit der Zeit, da die Erde diese Schätze, die Ersparnisse ihrer Jugendzeit, wie ein alternder Organismus fast erschöpft haben wird. Was dann? Werden wir in die Barbarei zurücksinken, oder wird sich bis dahin die Menschheit die Weisheit des Alters erworben und haushalten gelernt haben?

KEB: So ähnlich hatte dies der Club of Rome 100 Jahre nach Ihrer Zeit auch formuliert, Herr Hofrat. Ich danke Ihnen sehr herzlich für dieses Gespräch.

Ernst Mach, geboren am 18. Februar 1838 in Chirlitz bei Brünn, Kaisertum Österreich, gestorben am 19. Februar 1916 in Vaterstetten, Königreich Bayern, war ein österreichischer Physiker, Mathematiker, Sinnesphysiologe, Philosoph und Wissenschaftstheoretiker sowie ein Pionier der Wissenschaftsgeschichte. Nach Ernst Mach ist die „Mach-Zahl“ benannt, die die Geschwindigkeit im Verhältnis zur Schallgeschwindigkeit beschreibt.
Gespräch mit Niccolò Machiavelli

Den Wohlstand seiner Stadt befördern

Kurt E. Becker im Gespräch mit Niccolò Machiavelli

Das Gespräch findet sich in „Der behauste Mensch“, Patmos Verlag 2021

Gespräch mit Fritz Mauthner

Erst schwatzen, dann denken

Kurt E. Becker im Gespräch mit Fritz Mauthner

KEB: Herr Mauthner, lassen Sie uns über die Schule als Lehrstätte menschlicher Kultur und damit menschlichen Behaustseins miteinander Sprechen.

Mauthner: Der Mensch ist das Tier, dessen Seelenkräfte durch Unterricht, durch Unterweisung d. h. durch sprachliche Berichte anderer entwickelt werden können. Die klügsten andern Tiere können nur abgerichtet werden. Die Menschenkinder allein sind der Unterweisung durch Worte zugänglich, können ihre Vernunft über die der Eltern hinaus entwickeln, in sehr ungleicher Weise übrigens, je nach Rasse und individueller Anlage. Ohne Sprache kein Unterricht: nicht die uralte Unterweisung der Kinder durch ihre Eltern, nicht der Schulunterricht. Alle Größe und alle Not der Sprache, alle Vorzüge und alles Elend der Schule kommen aus dieser einen Quelle: daß der Unterricht in Worten der Sprache erteilt werden muß, und daß die Sprache selbst bei jedem Kinde der erste Gegenstand des Unterrichts ist. Man denke daran, daß die Kunsttriebe oder Instinkte der Tiere, wie immer man ihr Verhältnis zu der menschlichen Intelligenz betrachten mag, ohne Unterricht, ohne sprachliches Mittelglied ausgeübt werden; der Vogel hat das Brüten nicht gelernt; er fühlt nur beim Anblick der Eier: »Es muß ein Vergnügen sein, darauf zu sitzen.« Oder meinetwegen: »Ich muß jetzt die schwere und langweilige Arbeit des Sitzens auf mich nehmen; ich weiß nicht warum.« Das Tier kennt nur Sachen und kann darum schon nicht unterrichtet werden. Wir sind geneigt, das unmittelbare Verhältnis der Tiere zu den Sachen, in noch höherem Maße das Verhältnis der Pflanzen zu den Sachen, als einen Gegensatz zum menschlichen Geiste aufzufassen und diesen Gegensatz zum Geiste Natur zu nennen.

KEB: Überzeugt von der Institution „Schule“ sind Sie nicht...

Mauthner: Es ist keine arge Übertreibung, wenn ich nun behaupte, daß die Schule – nicht zufällig, sondern von ihrem Wesen gedrängt – die Tendenz hat, die Menschenkinder nur Worte zu lehren und gar keine Sachen. Daher eben wurde es Pflicht jeder ernsthaften Schulreform, den Weg der Unnatur zu verlassen, Sachen und Worte wieder zu vereinigen und so ein bißchen zur Natur zurückzukehren.

KEB: Ihre Fundamentalkritik zielt auf Sprache und Sprechenlernen.

Mauthner: Diese Auffassung der Schule oder des Unterrichts der Menschenkinder wird vielleicht etwas deutlicher werden, wenn wir nun versuchen, so vorurteilslos wie möglich das Sprechenlernen zu verfolgen von den ersten Anfängen bis zu den Jahren, in denen der erwachsene Mensch die Schule verläßt, um etwa als Doktor der Philosophie oder als Seminarlehrer wieder jüngere Leute zu unterrichten; wenn wir dabei nicht aus dem Auge verlieren, daß Sprechen und Denken – Nuancen vorbehalten – dasselbe ist, daß Verbesserung des Verstandes die lebenslängliche Arbeit des Sprechenlernens ist. Im Alter von ein bis drei Jahren lernt das Menschenkind zuerst sprechen, von den Erwachsenen seiner Umgebung; erst wenn es soweit sprechen gelernt hat, kann es dem Kindergarten, kann es der Schule übergeben werden. Nun beachte man, was die Kinderpsychologie gezeigt hat, daß das Kind die meisten Wörter zuerst nachsprechen und nachher erst verstehen lernt. Erst schwatzen, dann denken. Die Mutter oder die Amme macht es also in den Anfängen ebenso, wie die Entwicklung der Menschheit es mit den Jünglingen gemacht hat: zwei Jahrtausende brauchte es, bevor sich die Rhetorenschule der Griechen und Römer zu der Realschule der Gegenwart hinaufbildete. Erst schwatzen, dann denken. Wenn aber das Kind, etwa nach Vollendung des dritten Jahres, geläufig sprechen gelernt hat, seine Muttersprache versteht, wie man das nennt, so besitzt es nur einen Vorrat von einigen hundert Wörtern, und deren Bedeutung hat es teils gläubig im Sinne der Erwachsenen gebrauchen gelernt, teils hat es sie in seiner kindlichen Phantasie umgeformt. So kommt es in die Volksschule, übt das Lesen, das Schreiben und das Rechnen ein, lernt dazu doppelt wortabergläubig eine unverhältnismäßig große Menge Religion und hat während dieser ersten Schulzeit seine Kindersprache umzulernen. Der Form nach hat es sich der Schriftsprache anzupassen; dem Stoffe nach erfährt es, was ein Begriff sei; daß z. B. Hund, Vater, Haus nicht Individualnamen sind, sondern daß auch andere Kinder etwas wie einen Hund, einen Vater, ein Haus haben. Das Kind lernt von einem bessern Lehrer noch sehr viele andere Wörter, mit deren Hilfe es sich in seiner kleinen Umwelt orientiert.

KEB: Ich danke für das Gespräch.

Fritz Mauthner, geboren am 22. November 1849 in Horitz (Böhmen), gestorben am 29. Juni 1923 in Meersburg am Bodensee, Schriftsteller und Philosoph, arbeitete als Kulturkritiker und übernahm 1895 die Redaktion des Berliner Tageblatt. 1905 ging er nach Freiburg/Breisgau, aber schon 1909 zog er nach Meersburg und lebte dort als Privatgelehrter. Als Philosoph vertrat er eine Position, die den Wert der Sprache als Mittel der Erkenntnis in Frage stellt.
Gespräch mit Novalis

Von der Erde Ökonomie lernen

Kurt E. Becker im Gespräch mit Novalis

Das Gespräch findet sich in „Der behauste Mensch“, Patmos Verlag 2021

Gespräch mit Rainer Maria Rilke

Die Natur - das Grausamste und Fremdeste

Kurt E. Becker im Gespräch mit Rainer Maria Rilke

Das Gespräch findet sich in „Der behauste Mensch“, Patmos Verlag 2021

Gespräch mit Friedrich Schiller

Mit der physischen Welt in gutem Vernehmen

Kurt E. Becker im Gespräch mit Friedrich Schiller

Das Gespräch findet sich in „Der behauste Mensch“, Patmos Verlag 2021

Gespräch mit Oswald Spengler

Weltgeschichte ist die Geschichte der Stadtmenschen

Kurt E. Becker im Gespräch mit Oswald Spengler

Das Gespräch findet sich in „Der behauste Mensch“, Patmos Verlag 2021

Gespräch mit Tacitus

Zusammenhängenden Wohnsitzen abhold

Kurt E. Becker im Gespräch mit Tacitus

Das Gespräch findet sich in „Der behauste Mensch“, Patmos Verlag 2021

Gespräch mit Oscar Wilde

Abschaffung des Privateigentums

Kurt E. Becker im Gespräch mit Oscar Wilde

KEB: Lassen Sie uns über das Privateigentum miteinander sprechen, Herr Wilde. Ein großer Teil rubriziert bekanntlich unter Grundbesitz und Immobilien. Sie sind der Überzeugung, dass Eigentum der Individualität schadet?!

Wilde: Die Anerkennung des Privateigentums hat in der Tat den Individualismus geschädigt und verdunkelt, indem es den Menschen verwechselte mit dem, was er besitzt. Es hat den Individualismus völlig in die Irre geführt. Es hat ihm Gewinn, nicht Wachstum zum Ziel gemacht. So dass der Mensch dachte, die Hauptsache sei, zu haben, und nicht wusste, dass es die Hauptsache ist, zu sein.

KEB: Mit Ihren Thesen nehmen Sie die Anschauung eines Erich Fromm vorweg. Der hat in seinem Buch „Haben oder Sein“ ins gleiche Horn geblasen.

Wilde: Die wahre Vollkommenheit des Menschen liegt nicht in dem, was er hat, sondern in dem, was er ist. Das Privateigentum hat den wahren Individualismus vernichtet und einen falschen hingestellt. Durch Aushungern hat es einem Teil der Gemeinschaft die Möglichkeit benommen, individuell zu sein. Es hat dem andern Teil der Gemeinschaft die Möglichkeit, individuell zu sein, benommen, indem es ihn auf den falschen Weg brachte und ihn überbürdete.

KEB: Besitz ist in der Gesellschaft wichtiger als die Person. Das ist zumindest Ihre Überzeugung?!

Wilde: In der Tat ist die Persönlichkeit des Menschen so völlig von seinem Besitz aufgesogen worden, dass das englische Gesetz stets einen Angriff gegen das Eigentum eines Menschen weit strenger behandelt hat als gegen seine Person, und ein guter Bürger wird immer noch daran erkannt, dass er Eigentum hat. Die Betriebsamkeit, die zum Geldverdienen erforderlich ist, ist gleichfalls sehr demoralisierend. In einer Gemeinschaft wie der unsern, wo das Eigentum Rang, gesellschaftliche Stellung, Ehre, Würde, Titel und andere angenehme Dinge der Art verleiht, macht es der Mensch, ehrgeizig wie er von Natur wegen ist, zu seinem Ziel, solches Eigentum anzuhäufen, und fährt damit bis zur Ermüdung und zum Überdruss fort, auch wenn er weit mehr aufgehäuft hat, als er braucht oder benutzen kann, ja sogar mehr, als ihn erfreut und mehr, als er weiß. Der Mensch arbeitet sich zu Tode, um Eigentum zu erlangen, und wenn man freilich die ungeheuren Vorteile sieht, die das Eigentum mit sich führt, ist es nicht zum Verwundern. Bedauern muss man, dass die Gesellschaft so aufgebaut ist, dass der Mensch in eine Grube gezwängt ist, wo er nichts von dem frei zur Entfaltung kommen lassen kann, was Schönes und Bannendes und Köstliches in ihm ist – wo er tatsächlich die wahre Lust und die wahre Freude am Leben entbehrt.

KEB: Privateigentum sollte also abgeschafft werden?

Wilde: Nach der Abschaffung des Privateigentums werden wir ... den wahren, schönen, gesunden Individualismus haben. Niemand wird sein Leben damit vergeuden, dass er Sachen und Sachwerte anhäuft. Man wird leben. Leben – es gibt nichts Selteneres in der Welt. Die meisten Leute existieren, weiter nichts.

KEB: Ich danke Ihnen für dieses Gespräch.

Oscar Fingal O’Flahertie Wills Wilde, geboren am 16. Oktober 1844 in Dublin, gestorben am 30. November 1900 in Paris, war ein irischer Schriftsteller, Lyriker, Romanautor, Dramatiker und Kritiker und einer der bekanntesten und gleichzeitig umstrittensten Schriftsteller in viktorianischen Großbritannien. Wilde selbst hatte sich als „Künstler und Anarchist“ bezeichnet und war bekennender antiautoritärer Sozialist.