Gespräche zur Kultur

„Bei-Sich-Selbst-Seins des Lebens“

Gespräch mit Charles Baudelaire

Eine Art neuer Aristokratie

Kurt E. Becker im Gespräch mit Charles Baudelaire

Das Gespräch findet sich in „Der behauste Mensch“, Patmos Verlag 2021

Gespräch mit Cicero

Verfügungsrecht über alle Bequemlichkeiten der Erde

Kurt E. Becker im Gespräch mit Cicero

Das Gespräch findet sich in „Der behauste Mensch“, Patmos Verlag 2021

Gespräch mit Ralph Waldo Emerson

Liebe zur Schönheit

Kurt E. Becker im Gespräch mit Ralph Waldo Emerson

Das Gespräch findet sich in „Der behauste Mensch“, Patmos Verlag 2021

Gespräch mit Rudolf Christoph Eucken

Kultur als Verirrung

Kurt E. Becker im Gespräch mit Rudolf Christoph Eucken

Das Gespräch findet sich in „Der behauste Mensch“, Patmos Verlag 2021

Gespräch mit Joseph Görres

Der Geist des Städters geht auf’s Wechselnde

Kurt E. Becker im Gespräch mit Joseph Görres

KEB: Herr Görres, lassen Sie uns über das Wesen der Natur und ihr Verhältnis zum hausenden Menschen miteinander sprechen. Was sind aus Ihrer Sicht die essenziellen Merkmale des Natürlichen?

Görres: Alle Materie ist nur die im Naturgesetze zur Ruhe gehaltene Bewegung; die Natur selber ist jene Sphynx, die sich hinter den Sternen birgt. Heute noch wie damals, wie früherhin so immerdar, die gleiche, lässt sie in der lautlosen Stille der Unendlichkeit, zur Antwort auf die Fragen, die wir an sie gerichtet, die Wellenschläge ihrer Beredsamkeit ausgehen; aber wie am Grale sind ihre Orakel in Sternenschrift dem Raume eingeschrieben, und im Lapidarstil müssen die Elemente unten sie wieder geben; es ist die Beredsamkeit des Schweigens, in der diese Seherin sich offenbart …

Die freie Natur … verfügt selber nach Wohlbefinden über alles, was von ihr den Ausgang nimmt; in ihrer Welt ist jedes Persönliche für sich selbst unabhängig gesetzt, und alle im Verkehre miteinander sind wieder freigegeben, und werden, nur von einer höheren Freiheit getrieben, zu deren freie Anerkenntnis eben das Prinzip ihrer Selbständigkeit sie drängt … die Natur verbirgt ihre Tätigkeit hinter dem, was sie hervorgerufen; und ihre Hülle wird nun durch die feste Unterlage, über der die Freiheit ihre Taten wirkt, in denen das Gewirkte im Wirkenden sich verbirgt.

KEB: In diese Wirklichkeit der Natur fügt sich nun der hausende Mensch auf eine bestimmte Art und Weise ein. Als Bürger einer Stadt zum Beispiel. Welche Bewandtnis hat es mit der Stadt und ihren Bürgern?

Görres: Die Stadt muss um ihres Bestandes willen Mittelpunkt eines Kreises werden, innerhalb dessen sie einen Kreislauf zwischen sich und der Landschaft begründet, aus dem sie ihre Notdurft gewinnt; also das strömend Bewegliche konsolidierend, während der Landbau aus dem unbeweglich Konsolidierten das Bewegliche gewinnt. Alle Güter, die im Umkreise der Stadt durch die Werktätigkeit ihrer Bürger sich bereiten, suchen über die weitesten Räume sich auszubreiten; und die Strömungen des Handels streben in stets erweiterten Kreisen den Absatz der aufgenommenen zu sichern. Dem städtischen Geiste sind also die Naturschranken wie nicht vorhanden, die die Landschaften umziehen und begränzen; er hält sich eher an die Wässer, die die Täler verbinden und einigen; und so pflegt er denn auch mit Vorliebe innen und außen die Triebe und Neigungen, die auf das Einen und Verbinden in der eingreifenden Allgemeinheit gehen.

KEB: Innen und Außen des Städtischen verhalten sich wie zueinander?

Görres: Der Geist der Landschaftler ist auf‘s Beharrliche gerichtet, erstarrt aber leicht in dieser Richtung, und steift sich dann in ungelenkem Eigensinn und enger, hartnäckiger Beschränktheit. Der Geist des Städters aber geht auf‘s Wechselnde; das vorliegende Material durch Bearbeitung zum Gebrauch durch Wechsel zu bereiten, ist das Geschäft schon des Handwerkers; er sucht stets die Erfindung, einen bisher unerhörten Wechsel … Solche Gewöhnung aber, nach dem Neuen und Neuesten zu ringen, bereitet auch die Gemüter vor, leichtsinnig sich diesem Triebe hinzugeben, und nun flüchtig und vom Hauche jedes Windes hin und her getrieben, jeglichen Kernes der Gesinnung sich entbehrend, wesenlosen Gebilden nachzujagen. Für solche krankhafte Gelüste, sich in allen Gebieten des Möglichen zu versuchen, ist die rechte Schranke und das Heilmittel in jenem steifen, unbeugsamen Bauerneigensinn gegeben; der seinerseits wieder sein Gegengift in der städtischen Rührsamkeit mit Dank erkennen muss.

KEB: Dank an Sie, Herr Görres, für dieses erhellende Gespräch.

Johann Joseph Görres, ab 1839 von Görres, geboren am 25. Januar 1776 in Koblenz, gestorben am 29. Januar 1848 in München, war ein deutscher Hochschullehrer sowie katholischer Publizist. Als solcher konnte er in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen enormen Einfluss für sich in Anspruch nehmen. Die 1876 in Koblenz gegründete Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft wurde nach ihm benannt.
Gespräch mit Adolf Loos

Das Haus hat der Bequemlichkeit zu dienen

Kurt E. Becker im Gespräch mit Adolf Loos

Das Gespräch findet sich in „Der behauste Mensch“, Patmos Verlag 2021

Gespräch mit Leo Sternberg

Fußtapfen der Geschichte zeichnen sich in alle Wege

Kurt E. Becker im Gespräch mit Leo Sternberg

KEB: Herr Sternberg, der Rheingau hat für Sie eine ganz besondere Bedeutung als Kulturland besonderen menschlichen Behaust-Seins. Lassen Sie uns darüber sprechen.

Sternberg: Jener scharf begrenzte Landstrich, den nach zwei Seiten der Rhein, nach Osten und Norden die natürliche Schutzwehr eines dichtbewaldeten Gebirges abschließt, gilt von jeher als das deutsche Italien, und kein Geringerer als Bulwer hat ihn das schönste Tal der Welt genannt. Um von einer solchen Landschaft eine Vorstellung zu geben, wußte Niklas Vogt seine Vorlesungen über rheinische Geschichte nur damit zu eröffnen, daß er seine Zuhörer auf die Rheinbrücke von Mainz führte, wo man jenes Bild von dem Stromtal empfängt, das Goethe in den berühmten Versen von

„Des Rheins gestreckten Hügeln,
Hochgesegneten Gebreiten,
Auen, die den Fluß bespiegeln,
Weingeschmückten Landesweiten“

nachzeichnete.

In dieses Gemälde der episch sich ausbreitenden Ufer von Mainz bis Rüdesheim gehört zur Vervollständigung noch die balladeske Stromstrecke unterhalb des Binger Lochs, die die Schiffer das Gebirg nennen. Die Ufer rücken hier dichter zusammen. An ihren steilen Flanken lodert Wald empor, die tausend Balkone und Erker kleiner Weingärten kleben an den Hängen, und Burgen, die nur Felsenzacken zu sein scheinen, sägen sich in die feuchte Luft.

KEB: Schauen wir gemeinsam aufs Tal hinunter.

Sternberg: Wir ersteigen eins ihrer Felsennester und schauen von hoher Warte ins Stromtal hinab. Es ist die Rossel, die Gebirgskante, um die sich der Rhein rechtwinklig herumwendet, um seinen Lauf wieder nach Norden zu nehmen. Unter uns in dem Engpaß, den die Wassermassen in vorgeschichtlicher Zeit durch das uralte Schiefergebirge sich gegraben, keucht ein rauchender Schleppzug neben schäumenden Bänken durch die schmale Fahrrinne des Binger Lochs bergan, flankiert von der Mäuseturminsel und den Trümmern der Ehrenfels. Gegenüber, unter dem Rupertsberg, auf dem das Kloster der Mystikerin Hildegard gestanden, das eiserne Schienennetz von Bingerbrück; unter der Nahemündung die steinerne Brücke, die Drusus gebaut; aus Bingen sich emporgipfelnd Burg Klopp, wo Heinrich IV. als Gefangener seines Sohnes eingekerkert saß; noch überragt von der Kapelle des hl. Rochus, die das Andenken an die Pestzeit nach dem Dreißigjährigen Kriege wacherhält. Ingelheim taucht auf, wo die Pfalz des großen Karl gestanden; an unsrer Seite die Reben, die der Kaiser hier pflanzte, auf den Bergterrassen, die heute das Niederwalddenkmal krönt. Dies alles umfassen wir mit einem einzigen Blick. Entfernungen von Ewigkeiten scheinen aufgehoben. Urweltliches Spiel der Naturkräfte, Römerbrücken und Kaiserpfalzen, Sagentürme und Burgen, Mittelalter und Gegenwart, Kultur und Landschaft, der werdende, der Geschichte gewordene und der arbeitende Strom lagern dicht beieinander zwischen den Weinhügeln des Lebens zu einem untrennbaren Ganzen verwoben, sich beschauend in demselben Spiegel, in dem sie zusammenfließen.

KEB: Das Behaust-Sein im Rheingau ist vielgestaltig, wie Sie zu berichten wissen und findet seinen Ausdruck in einer mannigfaltigen Architektur.

Sternberg: Heitere Monumentalität! Wie hier, so ist die Schrift meißelnder Naturkräfte und in Natur sich wandelnde Vergangenheit überall an Uferhang und Seitental zu lesen. Die Klöster Notgottes und Eberbach, der Teufelskadrich und der Nolling, die Burgen der Brömser, der Wild- und Rheingrafen und der Scharfensteiner, die Wisper, die Hungersteine – jeder Fußbreit Erde und jeder Möwensand hat sein Sagengewispel. Die Fußtapfen der Geschichte zeichnen sich in alle Wege. Schöpferträume der Kultur ranken sich durch den Werktag und schauen uns an mit den Augen ihrer gewachsenen Welt. Denn die offene Verkehrs- und Grenzlage wie die innere Geschlossenheit und Solidarität des Kurstaates Mainz, dem der Landstrich über 800 Jahre lang angehörte, haben ihn trotz seines nur vier Quadratmeilen großen Flächengehaltes in die Schicksalsgemeinschaft des ganzen Stromgebiets oder – was gleichbedeutend ist – ganz Deutschlands verflochten. Noch steht in Winkel das Graue Haus, das älteste Steinhaus Deutschlands, der Wohnsitz des Hrabanus Maurus, der, mit der Hofakademie Karls des Großen in Beziehung, sein Kloster zum Mittelpunkt der damaligen Bildung machte. Noch spiegelt sich die Ingelheimer Au in den Fluten, wo Ludwig der Fromme, von seinen Söhnen auf dem „Lügenfelde« verraten, kummervoll seine Tage beschloß. Noch besitzen wir die kostbar illuminierte Handschrift der Visionen, die Hildegard in Bingen und Eibingen schaute, die erste Mystikerin des Rheinlandes, die zugleich als erste deutsche Naturforscherin und Ärztin gelten darf. Noch steht die Stätte in Eltville, wo Gutenberg die Brüder Bechtermünze in der Buchdruckerkunst unterwies. Schloß Vollrads mit seinem alten Turm ragt auf, der Stammsitz Richards v. Greiffenclau, des mächtigen Trierer Kurfürsten, an dem Huttens Reformationspläne zerschellten. Der grandiose Renaissancebau des Reichsfeldmarschalls Hilchen, des Waffengefährten Sickingens, pflanzt stolz sich auf in der Straßenfront von Lorch, kaum eine Wegstunde entfernt von dem Friedhof von Sauerburg, wo von dem Letzten aus dem Geschlechte seines Freundes Sickingen die halbverloschene Inschrift meldet: „Er starb im Elend.“

KEB: Soweit zu Geschichte, Baudenkmalen, Natur und Kultur. Und die Menschen im Rheingau. Was fällt Ihnen zu denen ein?

Sternberg: Ebenso wie man hier durch einen Naturschutzpark der Geschichte zu wandeln glaubt, in dem alle Kultur nur ein Stück der Landschaft zu sein scheint, sind auch die Bewohner hier „gewachsen“. Es ist gut, daß die Rheingauer im Rheingau wohnen – pflegt der Volksmund über die schwachen Kinder der rheinischen Sonne zu spotten. Winzer und Schiffer sind sie. Der Wein ist das Gold, das in Schweden- und Franzosenkriegen ihnen das Leben rettete. In Wein ausgemessen sind sogar die Strafen in ihren alten Brunnenbüchern. Ihr Wald, dessen Äste sie zu der lebendigen Festungsmauer des sogenannten Gebückes verflochten, bildete ihren Schutzwall, gegen den Friedrich von der Pfalz und Bernhard von Weimar nichts auszurichten vermochten. Und Rheingauer Luft machte – nach altem Rechtssprichworte – frei.

KEB: Aber auch die Romantiker vermochten dem Rheingau einiges abzugewinnen.

Sternberg: In diesem Himmelsstrich, dem deutsche Farbigkeit und italienische Formengröße das Gepräge geben, fanden Clemens Brentano und sein Kreis die phantastische Realität des romantischen Lebensgefühls. In dem Brentanoschen Landhaus zu Winkel, von dem die Rheinromantik ihren Ausgang nahm, schrieb Bettina in „kristallenen Mitternächten“ jene Naturevangelien von „schwarzkantigen Pfalzen im Strom, die mit ihren elfenbeinernen Festen und silbernen Zinnen ganz ins Mondlicht eingeschmolzen sind“, und wies damit dem Zauber des Gaues in der deutschen Geistesgeschichte für immer seinen Platz an.

KEB: Ich danke für das Gespräch.

Leo Sternberg, geboren am 7. Oktober 1876 in Limburg an der Lahn, gestorben am 26. Oktober 1937 auf Hvar, war ein deutscher Schriftsteller. Als „Nicht-Arier“ wurde er 1934 vom Dienst als Amtsrichter suspendiert, vorzeitig in den Ruhestand versetzt und hatte fortan Schwierigkeiten, seine Werke zu veröffentlichen. Daher sind seine wenigen Publikationen in der NS-Zeit häufig mit dem Pseudonym L.M.S. (= Leo Maria Sternberg) versehen. Sein schriftstellerisches Werk galt immer wieder dem Rheinland.
Gespräch mit Magda Trott

Flecke beseitigen

Kurt E. Becker im Gespräch mit Magda Trott

Das Gespräch findet sich in „Der behauste Mensch“, Patmos Verlag 2021