„Der Mensch – Glied in der Kette der Naturzwecke“
Fast nichts hat Bestand
Kurt E. Becker im Gespräch mit Marc Aurel
KEB: Herr Aurel, Sie haben eine spezifisch eigene Idee menschlichen Behaustseins.
Aurel: Man sucht Zurückgezogenheit auf dem Lande, am Meeresufer, auf dem Gebirge, und auch du hast die Gewohnheit, dich danach lebhaft zu sehnen. Aber das ist bloß Unwissenheit und Schwachheit, da es dir ja freisteht, zu jeder dir beliebigen Stunde dich in dich selbst zurückzuziehen. Es gibt für den Menschen keine geräuschlosere und ungestörtere Zufluchtsstätte als seine eigene Seele, zumal wenn er in sich selbst solche Eigenschaften hat, bei deren Betrachtung er sogleich vollkommene Ruhe genießt, und diese Ruhe ist meiner Meinung nach nichts anderes als ein gutes Gewissen. Halte recht oft solche stille Einkehr und erneuere so dich selbst.
KEB: Stille Einkehr im Blick auf das große Ganze?
Aurel: Ist ja doch die ganze Erde nur ein Punkt im All, und welch kleiner Winkel auf ihr ist deine Wohnung! Und hier, wieviel sind derer, die dich preisen werden, und von welcher Beschaffenheit sind sie? Denke also endlich daran, dich in jenes kleine Gebiet zurückzuziehen, das du selbst bist, und vor allem zerstreue dich nicht und widerstrebe nicht, sondern bleibe frei und sieh alle Dinge mit furchtlosem Auge an, als Mensch, als Bürger, als sterbliches Wesen.
KEB: Der Wandel ist das wesentliche Charakteristikum des Seins?
Aurel: Betrachte unaufhörlich, wie alles Werdende kraft einer Umwandlung entsteht, und gewöhne dich so an den Gedanken, daß die Allnatur nichts so sehr liebt, wie das Vorhandene umzuwandeln, um daraus Neues von ähnlicher Art zu schaffen; denn alles Vorhandene ist gewissermaßen der Same dessen, was aus ihm werden soll.
KEB: Der Faktor Zeit ist belanglos?
Aurel: Denke oft daran, wie schnell alles, was ist und geschieht, fortgerissen und entrückt wird. Ist ja doch das Wesen der Dinge in einem steten Flusse, und ihre Wirkungen sind einem unaufhörlichen Wechsel und deren Ursachen unzähligen Veränderungen unterworfen. Fast nichts hat Bestand, und uns nahe liegt jener gähnende Abgrund der Vergangenheit und Zukunft, in dem alles verschwindet....Jenes eilt ins Dasein, dieses aus dem Dasein, und von dem, was im Werden begriffen ist, ist manches bereits wieder verschwunden. Eine unaufhörliche Flut von Veränderungen erneuert stets die Welt, so wie der ununterbrochene Lauf der Zeit uns immer wieder eine neue, unbegrenzte Dauer in Aussicht stellt. Wer möchte nun in diesem Strome, wo man keinen festen Fuß fassen kann, irgendeines von den vorübereilenden Dingen besonders wertschätzen?
KEB: Mit Ihrer Einstellung zum Tod sollten Sie uns noch vertraut machen.
Aurel: Verachte den Tod nicht, vielmehr sieh ihm mit Ergebung entgegen, als einem Gliede in der Kette der Veränderungen, die dem Willen der Natur gemäß sind. Denn jung sein und altern, heranwachsen und mannbar werden, Zähne, Bart und graue Haare bekommen, zeugen, schwanger werden und gebären und die anderen Tätigkeiten der Natur, wie sie die verschiedenen Zeiten des Lebens mit sich bringen, sind ja dem Aufgelöstwerden gleichartig. Daher ist es die Sache eines denkenden Menschen, sich gegen den Tod weder hartnäckig noch abstoßend und übermütig zu zeigen, sondern ihm als einer der Naturwirkungen entgegenzusehen. Wie du des Augenblicks harrst, wo das Kindlein aus dem Schoße deiner Gattin hervorgehen soll, ebenso sollst du die Stunde erwarten, da deine Seele aus dieser ihrer Hülle entweichen wird. Willst du aber ein allbekanntes, herzstärkendes Mittel anwenden, so wird der Hinblick auf die Gegenstände, von denen du dich trennen sollst, und auf die Menschen, durch deren Sitten deine Seele nicht mehr verdorben werden wird, dich mit dem Tode vollkommen aussöhnen. Denn du sollst zwar an den Bösen möglichst wenig Anstoß nehmen, vielmehr für sie sorgen und sie mit Sanftmut ertragen, indessen darfst du doch daran denken, daß es nicht eine Trennung von gleichgesinnten Menschen gilt. Dies allein nämlich, wenn irgend etwas, könnte uns anziehen und im Leben festhalten, wenn es uns vergönnt wäre, mit Menschen zusammenzuleben, die sich dieselben Grundsätze angeeignet haben. Nun aber siehst du ja mit eigenen Augen, wieviel Verdruß aus der Menschen Uneinigkeit entspringt, so daß du wohl ausrufen möchtest: Komm doch schneller heran, lieber Tod, damit ich nicht etwa noch meiner selbst vergesse!
KEB: Ich danke Ihnen für dieses Gespräch.
Frucht der Erkenntnis
Kurt E. Becker im Gespräch mit Michail Bakunin
Das Gespräch findet sich in „Der behauste Mensch“, Patmos Verlag 2021
Wohnplätze menschlicher Leiden und Freuden
Kurt E. Becker im Gespräch mit Gustav Theodor Fechner
Das Gespräch findet sich in „Der behauste Mensch“, Patmos Verlag 2021
Glied in der Kette der Naturzwecke
Kurt E. Becker im Gespräch mit Immanuel Kant
Das Gespräch findet sich in „Der behauste Mensch“, Patmos Verlag 2021
Je mehr man sich beschränkt, um so erfinderischer wird man
Kurt E. Becker im fiktiven Gespräch mit Søren Kierkegaard
KEB: Herr Kierkegaard, Sie gelten als Vorreiter, manchen sogar als erster Vertreter der Existenzphilosophie und haben sich insofern essenziell, in meinen Worten ausgedrückt, mit dem Hausen und Behaustsein des Menschen befasst. Unter anderem haben Sie in Ihrer ironisch provokanten Art über das Thema „Wechselwirtschaft“ philosophiert. Über genau diese „Wechselwirtschaft“ würde ich gern mit Ihnen sprechen.
Kierkegaard: In diesem Wort könnte scheinbar eine Zweideutigkeit liegen, und wenn ich in diesem Wort Raum finden wollte für eine Bezeichnung der allgemeinen Methode, so müsste ich sagen, die Wechselwirtschaft bestehe darin, dass man immer wieder den Boden wechselt. So gebraucht der Landmann diesen Ausdruck freilich nicht. Doch möchte ich ihn einen Augenblick in diesem Sinne verwenden, um von jener Wechselwirtschaft zu sprechen, die auf der grenzenlosen Unendlichkeit der Veränderung beruht, ihrer extensiven Dimension.
KEB: Wie darf ich das verstehen?
Kierkegaard: Diese Wechselwirtschaft ist die vulgäre, die unkünstlerische, und liegt in einer Illusion. Man ist es müde, auf dem Lande zu leben, man reist in die Hauptstadt; man ist seines Heimatlandes müde, man reist ins Ausland; man ist „europamüde“, man reist nach Amerika und so weiter, man gibt sich einer schwärmerischen Hoffnung hin auf ein unendliches Reisen von Stern zu Stern. Oder die Bewegung ist eine andere, aber doch extensiv. Man ist es müde, von Porzellan zu essen, man isst von Silber; man ist des Silbers müde, man isst von Gold, man brennt halb Rom nieder, um den Brand Trojas zu sehen.
KEB: Im Zusammenhang mit der Wechselwirtschaft kommen Sie nicht zuletzt auch auf eine Art von „Mäßigung“ zu sprechen.
Kierkegaard: Die Methode, die ich vorschlage, liegt nicht darin, dass man den Boden wechselt, sondern wie bei der wahren Wechselwirtschaft im Wechsel der Bewirtschaftungsverfahren und der Fruchtarten. Hier liegt gleich das Prinzip der Beschränkung, welches das einzig rettende in der Welt ist. Je mehr man sich beschränkt, um so erfinderischer wird man.
KEB: Können Sie Beispiele nennen?
Kierkegaard: Ein in Einzelhaft sitzender Gefangener auf Lebenszeit ist überaus erfinderisch: Eine Spinne kann ihm größtes Ergötzen bereiten. Man denke an die Schulzeit, da man in das Alter getreten ist, wo keinerlei ästhetische Rücksicht genommen wird bei der Wahl derer, die einem belehren sollen, und diese daher oft sehr langweilig sind; wie erfinderisch ist man da doch! Welchen Spaß kann man daran haben, eine Fliege zu fangen, sie unter einer Nussschale gefangen zu halten und zuzusehen, wie sie mit dieser herumlaufen kann. Welche Freude macht es doch, ein Loch in den Tisch zu schneiden, eine Fliege hineinzusperren und durch ein Stück Papier zu ihr hinabzugucken! Wie unterhaltsam kann es doch sein, auf die eintönige Dachtraufe zu lauschen! Was für ein gründlicher Beobachter wird man doch, nicht das leiseste Geräusch oder die leiseste Bewegung entgeht einem. Hier ist die äußerste Spitze jenes Prinzips, dass nicht durch Extensität, sondern durch Intensität Beruhigung sucht.
KEB: Herr Kierkegaard, ein herzliches Dankeschön für dieses extensiv intensive Gespräch.
Das Dasein ist nicht für den Seienden bestimmt
Kurt E. Becker im Gespräch mit Giacomo Leopardi
Das Gespräch findet sich in „Der behauste Mensch“, Patmos Verlag 2021
Vergeude keine Energie; veredle sie!
Kurt E. Becker im Gespräch mit Wilhelm Ostwald
Das Gespräch findet sich in „Der behauste Mensch“, Patmos Verlag 2021
Aufhören, uns selbst zugrunde zu richten
Kurt E. Becker im Gespräch mit Leo Tolstoi
Das Gespräch findet sich in „Der behauste Mensch“, Patmos Verlag 2021
